SONNTAG 28 * 1989 / Seite 6 / Theater



SO MACHENS ALLE -
BERLIN 1989

Betrachtungen zu Werk und Inszenierung von
Mozarts »Cosí fan tutte« an der Deutschen Staatsoper Berlin



1.

Hat die Oper sich die Aufgabe zuschieben lassen, für den kulturellen Schönheitsschlaf aufzukommen ?

Kunst sollte Lebensmittel sein. - Die Kunst spiegelt die Wirklichkeit nicht mit mattem, ungeputztem Glas; aber es ist ein Zauberspiegel, in dem Tod und Träume wiedererscheinen. Spieglein, Spieglein an der Wand. Es weiß Bescheid, zwar ist es magisch, doch lügen, lügen tut es nie, es muß spiegeln, muß; in oft verwunderlichster und eigen-sinnigster Art - und selten ist das Erwartete das Wirkliche; ganz verrückt. Zerschlägt man das Spieglein, läuft alles leicht auf das Ende Dorian Grays hinaus.

(...) Glänzende Rokoko-Feste im Salzburg des Jet-Set-Zeitalters (wie es heißt), wo sich die Stars gegenseitig ihre Schallplatten-Neuaufnahmen um die Ohren schmeißen, hingerissen und entzückt. Erotik, Ironie und ein Tropfen Wermut... Teure Späße. Sind die Kostüme nicht bezaubernd ? ! Sicher, sicher.

Lebenslügen und Illusionsmechanismen

Lebenslüge, Illusionsmechanismen und die oft diametral entgegengesetzte Realität der Handgreiflichkeiten bilden das Substrat des Inhalts von "Cosí fan tutte". Und dieser Inhalt ist unangenehm, unerwünscht : zerschlägt Wunschwolken, beleuchtet grell Komplexe, Moralideologien und Obsessionen. Wie wird darauf reagiert ? Mit Verdrängung. Hilft das ? Nein, aber es täuscht : was täuscht, gefällt... Wenn die Oper wie ein Paravant vor eigne Lebens-Erfahrungen postiert wird, um diesen Salonfähigkeit zu verleihen, erklärt dies, warum sich dieser oder jene nur ungern die verlockende Scheinwelt des Lebenstrostes Operntraum durch pikante Hinweise auf eigne reale Befindlichkeiten und unlogische Spannungen zerstören läßt : aus manch frenetischem Buh (oder Bravo) mag allein die Angst schreien, nicht zuletzt die Angst vor dem, was meist schon eine halbe Stunde nach dem Verlassen des Opernhauses als Wirklichkeit zu erfahren ist. Träume, die in Einsamkeit zerschellen, geschluckte Ansprüche, Wünsche, aufgebläht an fremder und eigener Liebesunfähigkeit, werden grün. Verlorenheit zwischen Normen und Idealen, die sich nicht mit einem Glas Bier in Übereinstimmung bringen lassen und nun auch noch in der Oper auseinanderklaffen... : ausgerechnet bei Mozart ! Gerade bei Mozart. Der nämlich wußte es ganz genau. "Vorwärts zu Mozart", so Tschitscherin, der erste sowjetische Außenminister.

Eine Oper zum Lachen. Eine Oper zum Verzweifeln

COSÍ FAN TUTTE sollte man nicht zu leicht nehmen, nicht mehr. Opera buffa. Eine Oper zum Lachen. Eine Oper zum Verzweifeln (im Handlungsabriß des neuen Programmheftes führt Sigrid Neef das Wort in einem Absatz viermal an). Was ist das für ein Lachen ? Ein befreiendes, erkennendes doch wohl - sofern es uns am Schluß nicht im Halse stecken bleibt... Wer ist gemeint ? Wir doch.

Jean Genet schreibt an den Regisseur seines Stückes DIE WÄNDE, Roger Blin :
"Und wenn ich so Wert auf volles Licht lege, auf der Bühne und im Saal, dann, weil ich erreichen will, daß ... sich keiner irgendwo verdrücken kann."

Wie man liebt oder wie man das lernen könnte ?

Wer lacht wann warum. Auch in der Mozart-Oper ist das ein Motiv, wiederkehrend, variiert, ein roter Faden. Eine lachende Oper. Das Orchester lacht, ja, das ist uns bekannt gemacht worden. Können wir mitlachen ? Immer ? Lacht dann Mozart ? Wirklich ? Es ist ja nicht immerfort ein quasi bitteres Ha ! Ha !, und so sehr viel besser hatte es das "Wolferl", wie es scheint, wohl auch nicht -. Wer zuletzt lacht... Wer denn lacht zuletzt ? - Der "Charme" vergangener, weggebombter Zeiten ? Das Publikum, ein Mißverständnis ? Die Figuren ? Die Interpreten ? Wer ? Und : worüber ? ...Daß wir am Ende nicht wissen, wie man liebt oder wie man das lernen könnte ? Darum geht es doch.

Schönheit ist der Glanz des Wahren

"Jäcki denkt, daß sie alle hier, Irma, Manuel, Reimar Renaissancefürstchen, und er selbst, auf das, was sie Liebe nennen - er sagt - Eigentlich liebe ich dich, wie ich nie... schlechter vorbereitet sind als Apothekenanwärter auf ihr Apothekerstudium, wenn sie mit Abitur abgehen oder mit der Mittleren Reife."
- Das ist von Hubert Fichte. Es steht in seinem Roman PALETTE; ein andres Buch von ihm heißt, wie unsere Oper auch heißen könnte : VERSUCH ÜBER DIE PUBERTÄT. Was Wolfgang von Wangenheim über dieses Buch sagte, paßte genausogut auf Don Alfonso : es sei
"die Geschichte eines Mannes, der das Scheitern der Liebe erlebt und sich entschließt, aus den Trümmern wenigstens die Sexualität zu retten; der Frustration von ihrer Macht zu nehmen durch Beschreibung und so den Begriff der Liebe zu verändern."
Mir scheint, daß dies nicht nur genau auf Don Alfonso passen könnte, sondern gewissermaßen auch auf Wolfgang Amadé. - "Durch Beschreibung." - Mithin das Vergnügen, Puppen zu sezieren (metaphorisch). - "Der Frustration von ihrer Macht zu nehmen." - "Anderen ihr Spielzeug kaputt machen", bekennt Heiner Müller den Lust-Impuls seines Schreibens : das Zerstören gefährlicher lieber Illusionen. - Damit etwas anderes eine Chance hat, die Utopie, die bei Mozart transzendent wird, das Schöne, das, wie Beuys die jahrhundertealte Frage mit Augustinus beantwortet : "der Glanz des Wahren" ist. - "So den Begriff der Liebe zu verändern."


2.

Beziehungskisten

Ruth Berghaus bleibt in ihrer jüngsten Opernarbeit nichts schuldig, so machens nicht alle, das meistert nur sie. COSÍ FAN TUTTE handelt von dem, was wir "Beziehungskisten" nennen. Ruth Berghaus zeigt das auf der Bühne. Ausstatter Peter Schubert baut ihr den famosen Spielraum (ein Raum des Imaginären, versteht sich bei Mozart), praktikabel, voller Sinnbezüge und hochartifizieller Reize. Die Beziehungskisten fahren höchstpersönlich ins Scheinwerferlicht... Der Plural im Stücktitel ist des Pudels Kern unseres Problems : gleich am Beginn steht die Kiste mit der kollektiven Identifikation, der Männerkiste. Das ist brisant. Von Don Alfonso aus ihrer Kadettenmoral gestoßen, in der er selber sitzt, purzeln sie in eigenste, unmittelbare Erfahrungen : aus der Ideologie, sozusagen, in den Hautkontakt mit der Welt, wie sie ist, die zwei blutjungen Militärs und Verlobten. Die Zeit kippt um, Gedanken und Gefühle rasen und die Bewegungen gehen in Zeitlupe durch das existentielle Experiment : nichts entgeht der Lupe der Zeit, die Musik ist.

Flucht in die kollektive Identifikation

Flucht - zurück - in die kollektive Identifikation - blockt die Chance ab. Ein Allgemeinplatz : das böse Ende. Die Schlußlösung vervielfacht des Anfangs Brisanz - wenn die Protagonisten in den Scherben ihrer Illusionen und Programme stehen (wachen sie auf ?), haben sie sich längst auffangen lassen : wie auf der Flucht (eine Konkurrenz) rennen sie allesamt zur Hochzeit, der kollektiven Scheinrettung, maskiert, kostümiert, anonym, erschreckend lustig und gesichtslos - alle miteinand´... "Alfonso hat sich geirrt, am Ende gibt es nicht nur Desillusionierung, sondern alle haben Erfahrungen gemacht und müssen mit dem leben, was ihnen widerfahren ist. Ob und wie das geht, weiß keiner." (Besetzungszettel). Die Liebenden sind verloren im Finale : die Masken gehen nicht mehr ganz ab..., der "Start ins Leben" scheint verpatzt, kam einem da nicht irgendwas in die Rennbahn ? Wer anderes etwa ? "Die Tafel ist serviert."

Liebesträume

Zuvor wird der Traum vom verlorenen Paradies geträumt, dem Garten, aus dem wir vorgeburtlich zu kommen scheinen, dem Ur-Wald : in starken Farben leuchtet er auf, wenn die Liebe ersehnt wird, aus der Ferne, ein Bild, ein Rahmen also - exotische Vision, siehe Gaugin, siehe Hubert Fichte (XANGO); die ihren Liebestraum im exotischen Urwald suchten und dort sich selber fanden - beschädigt von den Ausgangssituationen... Schon im zweiten Teil der Inszenierung ist die bunte Utopie in den Hintergrund gefahren, verlagern sich Begegnungen und Berührungen in die große Kiste versteinter Hoffnungen am Boden, wo ein Startblock-ins-Leben neben dem anderen, die Kreuz und die Quer, die Bahnen blockiert : gebrochene Wege. Kein Stern, kein Gott ("stelle ! o Dio !") drüber, bloß ein allgemeiner Kitschbogen aus Federkissen und Kunstrosen. Die können elektrisch leuchten. Im Takt. Ein Gaudi.

Krasse Wechselbäder Seltenst zu erleben in Mozart-Aufführungen, seltenst : echte Komik (das Duett der Mädchen im II.Akt !) - überhaupt viele schöne Momente, bewundernswerte. Viel Sinnlichkeit. Die Sinngebungen werden mit den Sinnen geprüft. Beispiele. Wenn die verkleideten Verlobten (nicht mit der Lächerlichkeit von Mummenschanz, sondern eindeutig, im Lederanzug) auftreten, passiert Zwiespältiges : reagieren die Mädchen in ihrem Zimmer auf die Macho-Tour natürlich widersprüchlich. Mit Worten wehren und sträuben sie sich gegen die Zumutung (doch aus welchem Grund : bohrend wird das Motiv untersucht) - ihre unbemerkten Wünsche sehen offenbar etwas anders aus. Später klettern die Mädchen aufs Dach, um durchs Fenster zu erspähen, was denn der Don Alfonso da auf dem Fußboden mit der Despina macht. Aber wenn diese sie nun über die Männer aufzuklären versucht und das Blut an ihren Händen vorzeigt, wollen beide davon nichts wissen : wer nicht hören will, muß... im II.Akt krasse Wechselbäder erleben, Härten und Weichheit, Küsse und Revolver, Eis und Feuer, eng beieinander ! Und obendrein kann man in dieser Welt nicht einmal mehr richtig entspannen : der Einfall, einen Ausflug zu Wasser zu unternehmen, entlarvt sich als bestenfalls kollektive Originalität. Aus mit der Romantik...

Junge Leute finden eigene Antworten auf die alten Fragen

Sigrid Neef hat in ihrer Vorankündigung recht, die Staatsoper wartet für dieses Werk mit idealer Besetzung auf : "Junge Leute, die ihre eigenen Antworten auf die alten Fragen des Stückes geben."

Homogenität des Ensembles

Die Leistungen aller sechs Solisten sind hoffnungserweckend, ein Glücksfall. Toril Carlsen als Fiordiligi klingt durchweg schön. Die "Felsenarie", der modische Ironisierung erspart bleibt, erfüllt sie glaubhaft mit existentieller Expressivität; sowohl stimmlich als darstellerisch. Die Dorabella der Dagmar Pecková bietet alles, was die Partie fordert : eine funkelnde Stimme, Temperament und Humor, die beiden Sängerinnen ergänzen sich - zumal in ihren Duettszenen, Kabinettstücke ! Lockerheit. Yvonn Füssel überzeugte mich vor allem in der Erscheinung, spielerisch und in ihren sprudelnden Rezitativen als Despina. Trotz der Homogenität des Ensembles muß hervorgehoben werden der erstaunliche René Pape, der Don Alfonso ist. Die Stimme ist faszinierend, die Rollengestaltung ist faszinierend. Souverän geht er durch das Spiel, unbewegt und überlegen, so scheint es. Ein Akrobat auf dem Seil über dem Abgrund der Blicke und Tatsachen. Sein Gesang ist kraftvoll, sinnlich und reif. Auch die anderen Männer sind ausgezeichnet. Bei dem Ferrando Ralph Eschrigs, der in der Szene öfters etwas linkisch-nervös wirkte, bangte ich manchmal, ob er in den Rezitativen (mit haarsträubender Italienisch-Intonation) etwa ganz ins Sprechen verfällt - um so verblüffender leuchteten dann die Arien warm und weich auf. Sehr gut verkörpert Roman Trekel den Guglielmo, singt ihn ausgewogen und wunderschön. Auch die Sonderaufgabe : er ja muß die großartige Arie "Rivolgete a lui lo sguardo" (KV 584) im I.Akt singen, welche Mozart 1790 durch die kürzere Nr. 15 für die Uraufführung ersetzte. Überhaupt dürfte dies die kompletteste Theateraufführung von COSÍ FAN TUTTE sein - keinen Augenblick konzertant oder langweilig ! Im II.Akt ist die (sogar bei den meisten Gesamtaufnahmen fehlende) erste Ferrando-Arie zu hören und keines der beiden Rondos von Fiordiligi und Dorabella ist gestrichen. Diese Öffnungen sind als Gewinn erlebbar : und das ist dem Können Olaf Henzolds zu danken, dem Dirigenten der Oper. Er läßt alle zügig, klar und flexibel musizieren, das Orchester klingt leicht, fast brillant. Sofort packt die Ouverture mit ungeahnter Lebendigkeit zu : diesen Drive verliert Henzold, auch noch sehr jung, in keiner Phase - und zwar, ohne die Vielschichtigkeit dieser komplizierten Mozart-Partitur zu veräußerlichen. Man hört, daß der Mann das Werk analysiert hat.

Hoffen wir, daß das Nachdenken über diese aktuelle Inszenierung mithilft, eine gewisse bürgerliche Borniertheit etwas mehr zu Geschichte werden zu lassen, die sich schon 1792 im JOURNAL DES LUXUS UND DER MODEN verlauten ließ :
"Gegenwärtiges Singspiel ist das albernste Zeug von der Welt, und seine Vorstellung wird nur in Rücksicht seiner vortrefflichen Komposition besucht."

Berlin / 5. Juli 1989


© olaf brühl
siehe auch: ROSENKAVALIER 1992


Ruth Berghaus 1992 in Berlin
bei den Proben zur Wiederaufnahme
ihrer 1982-iger Inszenierung von
Brecht/Dessau DIE VERURTEILUNG DES LUKULLUS
Foto: Olaf Brühl